Der Biennale Effekt
Frieze New York öffnete dieses Jahr eine Woche vor der Venedig Biennale – mit vielen Künstlern, Sponsoren – und Sammlern – die beides besuchen. Was sind in einer immer stärker vernetzten Welt die verschiedenen Rollen der Veranstaltungen?

Die 57. Biennale in Venedig öffnet in dieser Woche ihre Pforten. Kuratorin der zentralen Ausstellung ist diesmal Christine Marcel vom Centre Pompidou in Paris. Gegründet im Jahr 1895 zur Feier einer Hochzeit im italienischen Königshaus, präsentiert sich die Biennale heute als internationale Schau der Kunst und des Nachdenkens über sie. Obwohl Biennalen fast wie Pilze aus dem Boden schießen – die Biennial Foundation listet knapp 200 auf ihrer Website auf – ist Venedig wohl nach wie vor das bedeutendste zeitgenössische Kunstereignis mit dem klarsten Profil.
Was sagt die Biennale 2017 über den Zustand der Kunstwelt aus? Einen überraschenden ersten Eindruck vermittelt die renommierte französische Kommentatorin Benhamou-Huet, die meinte, eine Botschaft in Marcels Ausstellung sei die Forderung, „man sollte nicht Sklave der eigenen Arbeit sein müssen“. Damit verwies sie insbesondere auf eine der 900 Arbeiten, eine Fotografie des berühmten deutschen Bildhauers Franz West, die zeigt, wie er auf einem von ihm selbst entworfenen Sofa schläft.
Vielleicht ist es ihre Interpretation der Biennale als Bekräftigung des Rechts von Künstlern auch auf Muße und Erschöpfung, die Benhamou-Huets Aussage von der Biennale als „eindeutig anti-kommerziell“ und „gegen den Kunstmarkt gerichtet“ erklären mag. Doch lässt sich das Konzept der nicht gewinnorientierten Ausstellung tatsächlich so einfach von den Foren des Kunstmarktes trennen?
Angesichts des Timings internationaler Kunstmessen wie der Art Basel, die traditionellerweise im Juni und damit einen Monat nach der Vernissage in Venedig stattfindet, lautete lange Zeit hindurch eines der Credos der Kunstwelt: „Sehen in Venedig, kaufen in Basel.“ Das heißt: Die bedeutendsten Sammler – und ihre Satelliten, die Galerien – könnten Venedig als besonders prestigeträchtiges Schaufenster, ein Vorspiel der Sonderklasse, vor den kommerziellen Transaktionen des Sommers betrachten.
Ob in der von Marcel kuratierten zentralen Ausstellung oder in einem der Länderpavillons in den Giardini ringsum oder in der nach wie vor steigenden Zahl externer Pavillons in den auf Zeit gemieteten Palazzi überall in der Stadt (in diesem Jahr sind hier sogar die relativ unterrepräsentierten Kunstszenen von Andorra, Antigua und Barbuda oder Kiribati wie auch eine Diaspora-Plattform vertreten, die sich den mobilen Völkern der Erde widmet) – der langfristige Vorteil, den eine Ausstellung und die Prominenz der Aufnahme eines Künstlers in die Biennale bietet, ist so groß, dass kommerzielle Galerien mit langjährigen Beziehungen zu ihren Künstlern häufig einen Beitrag zu den Produktions- und Transportkosten der Teilnahme leisten (und Nebenveranstaltungen wie Galadiners und Empfänge sponsern). Natürlich werden solche Arrangements selten explizit zugegeben, doch der Umstand, dass Kunst – gleich, wo sie erscheint – für Leute mit den richtigen Kontakten und dem nötigen Kleingeld auch potenziell käuflich ist, erklärt, warum nicht nur Kuratoren und Kunstliebhaber, sondern auch Sammler, Mäzene und Galeristen auf der Suche nach dem Puls der Zeit durch die Serenissima streifen.
Irgendwie ist alles eine Frage des Timings. Während der letzten Biennale, 2014, zitierte das einschlägige Kunstorgan The Art Newspaper einen Kunstberater mit der Aussage, er sei am Eingangstor der Biennale Zeuge von Verkaufstransaktionen geworden. Bedeutete der Umstand, dass damals die Eröffnungswoche in Venedig vor der Frieze New York stattfand, vielleicht eine Umkehrung des Diktums: „Sehen in Venedig, kaufen auf der Frieze New York“? Diese Frage stellte The Art Newspaper auf der Titelseite ihrer Ausgabe zur Eröffnung der Kunstmesse und verwies unter anderem auf Werke von Künstlerinnen und Künstlern wie Katharina Grosse, Joan Jonas, Isaac Julien und Kara Walker.
Diesmal schloss die Frieze New York wenige Tage vor dem Start der Biennale, und der Schwarm der Kuratoren, Sammler, Künstler und Kunstliebhaber verließ eilig Randall’s Island Park (den Standort der Frieze) und wandte sich Venedig zu. Unter ihnen ist etwa Cecilia Alemani, die nicht nur Direktorin von High Line Art in New York, sondern auch Kuratorin von Frieze Projects New York ist, wo sie drei neuen standortspezifischen Boards und einem Tribute-Programm vorsteht. In diesem Jahr muss sie sich sogar um noch ein weiteres Projekt kümmern – als Kuratorin des Italien-Pavillons auf der Biennale. Alemani ist kein Neuling auf Biennalen. Ihr Partner Massimiliano Gioni vom New Museum kuratierte die vielgelobte 55. Biennale im Jahr 2013. Für Alemani ist es allerdings der erste offizielle Auftritt in Venedig. Sie macht aus ihrer Absicht, mit Traditionen zu brechen, gar kein Geheimnis, wirft die Generationenbefragung, die für den italienischen Beitrag so typisch war, über Bord und entscheidet sich stattdessen für eine enge, fokussierte Schau dreier italienischer Künstler aus ihrer eigenen Generation – Roberto Cuoghi, Adelita Husni-Bey und Giorgio Andreotta Calò –, die dem verbreiteten Krisengefühl Zauber und Verzückung entgegensetzen.
Mit dem letztgenannten dieser drei Künstler hat Alemani selbst schon auf der Frieze New York gearbeitet. Sie beauftragte ihn 2016 mit einem von BMW gesponserten Klangwerk für das Frieze-Sounds-Programm, das in den rund um die Messe eingesetzten BMW-Wagen abgespielt wurde. Es ist durchaus logisch, mit einem Künstler in Frieze Projects zu arbeiten, bevor man eine andere Kooperation anstrebt, fungiert die Messe doch als eine Art Labor – das ideale Setting für einen Trockentest. „Es gibt gewisse institutionelle Grenzen, die auf der Messe einfach nicht gelten“, sagt Alemani. „Und die Künstlerin oder der Künstler empfindet es als Befreiung, nicht sofort für den Verkauf arbeiten zu müssen.“ Das gesamte Programm der Frieze Projects werde gemeinnützig finanziert, merkt sie weiter an, und Projekte wie das diesjährige „Cinematic Doubling“ (bei dem Doppelgänger von Leonardo DiCaprio durch die Messe schlenderten) ließen sich nicht einmal mit den engagiertesten Sammlern realisieren.

Während also Venedig nicht frei von Kommerz ist, so kommt die Frieze New York nicht ohne marktferne Nischen aus. Die Arbeit Alemanis mit Andreotta Calò demonstriert den reibungslosen Wechsel wesentlicher Protagonisten von einem Kontext in einen anderen. Anstatt Biennalen und Kunstmessen als voneinander getrennte oder sogar gegensätzliche Konzepte zu sehen, könnten wir sie zwar als verschiedene, aber einander ergänzende Modelle betrachten, die an denselben globalen Diskurs- und Austauschströmungen teilnehmen. Es sollte daher nicht überraschen, dass auf der Frieze New York 2017 viele Arbeiten von Künstlern zu sehen waren, die auch in Venedig ausstellen. Man denke etwa an Newcomer oder bereits arrivierte Künstler wie die in Vietnam geborene, aber in Frankreich lebende Thu Van Tran, der eine Solopräsentation ihrer Skulpturmontagen und ethnisch angehauchten Konstruktionen mit Outsider-Anklängen durch die Brüsseler Galerie Meessen De Clerq gewidmet war, oder an Veteranen der Zunft wie die 63-jährige Kiki Smith, die mit einem ganzen Raum von Arbeiten auf nepalesischem Papier in der Hauptausstellung vertreten war, bis hin zu einer großen Arbeit auf Papier auf der Außenwand des Standes der Galleria Lorcan O’Neill. Die schweizerisch-amerikanische Bildhauerin Carol Bove (die in den Giardini die Schweiz vertritt) stellte auf dem Stand von David Zwirner (in einer interessanten Paarung mit Fotografien von William Eggleston) neue Skulpturen aus, während der vielgeliebten New Yorker Non-Profit-Organisation SculptureCenter ein Messestand überlassen wurde, auf dem durch den Verkauf von Arbeiten wie jenen Boves Geld gesammelt wurde. Olafur Eliasson feiert sein öffentliches Debüt in Venedig in Marcels Hauptausstellung, während zugleich die Galerie Tanya Bonakdar eine neue Skulptur des Isländers zeigt. Untypisch für Eliasson besteht sie aus unterschiedlich stark eingefärbten Glaskugeln, die wie die Umlaufbahnen von Planeten in konzentrischen Kreisen angeordnet sind – ein leuchtendes Bild kosmischer Harmonie.
Unter den experimentierfreudigen Neuen fiel die Wahl der Galerie mit Sitz in New York auf ein Projekt von Dawn Kaspar, für deren Venedig-Beitrag – The Sun, The Moon, and The Stars (2017) – sich die Künstlerin sechs Monate lang in einem temporären Arbeitsraum im Hauptpavillon der Biennale aufhalten, Musik machen, mit Besuchern sprechen und Gerüchten zufolge bisweilen auch eine Axt schwingen wird. Auf der Messe ließ ihr Lewis ebenfalls freie Hand: Der Stand wurde in ein aktives Labor für ihre diversen Auftritte umgebaut, in dem für den Rest der Woche ihre künstlerischen Hinterlassenschaften verstreut wurden. Ein Live-Element beobachten wir auch bei einem weiteren von Marcel ausgewählten Künstler, Anri Sala, dessen Installation selbst spielender Schlagzeuge als eine der wenigen, aber überraschenden Solopräsentationen der Galerie Marian Goodman beeindruckte. Gespielt wurde ein Stück des Künstlers, das Übergänge beliebter Songs verbindet. Sala, der auf der Messe im Zuge des Programms Frieze Talks unter Kurator Tom Eccles von CCS Bard einen Vortrag hielt, sprach von diesen Übergängen als den „Underdogs“ der Musik, die hier den Status gewollter zeitgenössischer Themen erhalten.
Ein weiterer Klangkünstler auf der Biennale ist Samson Young, der in diesem Jahr Hongkong vertritt. Ihn präsentierte die Galerie Gisela Capitain in Form einer eindrucksvollen Installation mit Neonlicht und Texten. Wenngleich noch ein relativ „junger“ Künstler, ist er auf der Frieze kein Neuling mehr. Im Vorjahr hatte man ihn mit einem „Sound Walk“ für die Frieze London 2016 im Zuge des nicht kommerziellen Parallelprogramms beauftragt. Kurator war Raphael Gygax vom Migros Museum in Zürich. Hier wurde auch ein neuer Auftragsfilm von Rachel Maclean gezeigt, die in diesem Jahr Schottland auf der Biennale vertritt. Zu den Alumni von Frieze Projects, die in Venedig ebenfalls eine Rolle spielen, gehört auch Koki Tanaka, der 2014 von Alemani beauftragt und von der Deutschen Bank 2015 zum Künstler des Jahres gewählt wurde.

Kunstmessen können, was auch Biennalen zumeist zuerkannt wird, eine Plattform bieten, die vielversprechenden Talenten die entsprechende Aufmerksamkeit sichert. Jens Hoffman, Director of Special Exhibitions and Public Programmes im Jewish Museum, New York, und Kurator der Biennalen in Shanghai (2012), Istanbul (2011) und Lyon (2007), meint, man könne „durchaus argumentieren, dass Biennalen ihre traditionelle Funktion als Entdeckungsorte der Kunst verloren haben“, teils wegen der fast schon allgegenwärtigen Kunstmessen („ich zählte allein 2016 mehr als zweihundert von ihnen“, erklärte mir Hoffman).
Doch Entdeckungen sind nicht nur ein beliebter Zeitvertreib einiger junger Männer. Rumänien ist in diesem Jahr auf der Biennale mit der 91-jährigen Künstlerin Geta Brătescu vertreten, deren Meisterschaft in den Disziplinen Zeichnen, Fotografie, Film und Performance durch ihre hervorragenden Textilskulpturen ergänzt wird, von denen die Ivan Gallery 2017 auf der Frieze New York mehrere ausstellte. Die zentrale Schau in Venedig zeigt auch Arbeiten der 83-jährigen Irma Blank, einer in Italien lebenden deutschen Vertreterin einer Art konkreter Dichtkunst, die in der Sektion Spotlight von P420 auf der Frieze New York präsentiert wurde. Dieser Teil der Messe, kuratiert von Toby Kamps von der Sammlung Menil, ist wenig bekannten oder vertretenen historischen Positionen gewidmet. Kuratoren können hier übrigens oft etwas entdecken: Huguette Caland und die verstorbene Heidi Bucher, beide in der vorjährigen Ausstellung Marcels vertreten, waren zuvor in der Sektion Spotlight auf der Frieze Masters Fair in London zu sehen. Alemani glaubt, in manchen Biennalen eine immer stärkere Präsenz der historischen Figur des „so genannten unbeachteten Künstlers“ zu beobachten. Sie deutet diese Gemeinsamkeit aber nicht als wechselseitige Beeinflussung, sondern als dieselbe Reaktion auf einen vorhandenen Änderungsbedarf. „Biennalen wie Kunstmessen gibt es seit Jahrzehnten – das Bedürfnis der Erneuerung tragen beide in ihrer DNA“, ist sie überzeugt.
Angesichts all der Berührungspunkte, Wiederholungen und Resonanzen zwischen der diesjährigen Biennale und der Frieze New York, aber auch der weltweiten Vernetzung der Kunstszene, die diese nachvollziehbar widerspiegelt, vergisst man leicht, wie heterogen die Welt der Kunst ist: Das Publikum ist wandelbar. Jo Stella-Sawicka, künstlerische Leiterin der Frieze, schreibt, dass sich selbst einige der engagiertesten Sammler und Kuratoren trotz des „glokalen“ Charakters der Kunstwelt gerade wegen ihres Engagements (oder der Arbeit, die dieses ermöglicht) die Zeit bewusst einteilen müssen. „Nicht alle, die die Frieze New York besuchen, fahren auch nach Venedig“, meint sie. „Das Besondere an den Ausstellungen von Galerien auf der Messe sind unter anderem jene Arbeiten, die mit der Biennale in Venedig und anderen in Verbindung stehen“, erklärt sie. „So erhascht das Publikum einen Blick auf etwas, das es sonst nie sehen würde.“ Also weniger Vorspiel, eher schon eine Art Trostpreis.
Doch nicht alle Exponenten der Kunstszene sehen die Überlappungen der Veranstaltungen so positiv. The Art Newspaper zitierte den Kunsthändler Thaddeus Ropac mit der Aussage, aufgrund der „Integrität“ kuratierter Ausstellungen sei es unangemessen, sie mit kommerziellen Initiativen zu verbinden. Hoffman, wenngleich bekennender „Kunstmessen-Junkie“, spricht über die Ermüdungsgefahr durch die steigende Zahl von Kunstmessen und Biennalen. Vielleicht sollten wir in Anlehnung an das buddhistische Koan sagen: Wo immer du hingehst, ist Kunst. Trotzdem erklärte Hoffman gegenüber der Frieze 2016: „Würde man die wichtigen Messen verpassen, so wäre das, als hätte man das Finale zwischen Real Madrid und Manchester United in der Champions League verpasst.“ Dies muss auch für die diesjährige Biennale in Venedig gelten. Und wenn Sie das Spiel sehen wollen, sichern Sie sich einen Platz in den vorderen Rängen.
Autor: Matthew McLean
Fotos: Mark Blower/Frieze, Alessandra Sofia, Frieze