Junge Hightech-Unternehmen sind zunehmend auf der Suche nach einem kollegialen Umfeld, in dem sie wachsen können - vier europäische Städte bieten riesige Campusse, die ein schnelles Wachstum und flexibles Arbeiten ermöglichen sollen.

 

Jeden Morgen stürmt eine Menschenmenge in einen klotzigen Beton-bahnhof im Herzen des 13. Arrondissement in Paris. Das Gebäude ist eher unscheinbar: ein breiter, grauer Block, der von neu errichteten Türmen überragt wird, in unmittelbarer Nähe zur Seine. Doch tat-sächlich haben sich bereits 1.000 Unternehmen, von kleinsten Start-ups bis hin zu multinationalen Konzernen, auf diesem 34.000 m² großen Campus niedergelassen, der 2017 vom französischen Telekommunikations-Milliardär Xavier Niel gegründet wurde, damit Frankreich und Europa dem Silicon Valley Paroli bieten können. Das funktioniert nun schon seit zwei Jahren. Dort haben sich unter anderem Facebook, Microsoft, L’Oréal, 26 verschiedene Start-up-Inkubatorprogramme und die französische Regierung niedergelassen.


Doch Station F ist nicht allein. Ähnliche Campusse werden dieses Jahr auch in Lissabon und in Stockholm eröffnet, in der Hoffnung, das lokale Tech-Ökosystem anzukurbeln und international anerkannte Technologiezentren aufzubauen. Anders als die omnipräsenten Coworking-Spaces wie beispielsweise WeWork, die für jede Art von Unternehmen zugänglich sind, sind diese Campusse Bestandteil einer konzertierten Aktion, um Unternehmen in physischen Räumlichkeiten, die speziell auf Technologieunternehmen ausgelegt sind, zusammenzubringen und letztendlich die Stadt umzugestalten.


Zwar sind Start-up-Megacampusse im Jahr 2019 keine Neuheit mehr, doch ihre Ausdehnung in ganz Europa und die Kühnheit ihres Ausmaßes sowie ihrer Ambitionen zeigen, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt für dieses Konzept ist. Wir stellen vier der Städte vor, die um Ihre nächste Start-up-Idee wetteifern. 

 

 

Paris: Station F

Einer der auffälligsten Aspekte von Station F ist neben seiner Größe das geschäftige Treiben. Im zentralen unteren Bereich des Bahn-hofs, wo sich einst Bahnschienen befanden, reihen sich heute zahl-reiche Eventflächen aneinander, und an einem normalen Morgen sind diese überfüllt mit Menschen, die sich Gastvorträge anhören, ihre Produkte potenziellen Investoren vorstellen oder einfach Kontakte knüpfen und pflegen. Schaut man sich diese Gäste an, wird einem die Bedeutung dieses Orts bewusst: „Wir hatten bereits Besuch vom Fürsten von Monaco, dem Herzog und der Herzogin von Luxemburg, den Präsidenten aus Chile, Argentinien und Kolumbien, dem Premierminister von Norwegen und noch weiteren. Auch Pharrell Williams kam schon auf einen Überraschungsbesuch zum Start des adidas [Sport-Accelerator] Programms im Januar zu uns“, sagt die Leiterin von Station F, Roxanne Varza.


Die Einrichtung, die schätzungsweise 250 Millionen Euro kostet, wirkt unendlich groß. Hier finden sich mehr als 3.000 Schreibtische, zahlreiche Meetingräume, ein Café und ein riesiges öffentliches Restaurant mit 1.000 Plätzen sowie ein „Makerspace“ mit 3D-Druckern für die schnelle Herstellung von Prototypen. Gleichermaßen wichtig sind die professionellen Dienstleistungen, die von Unternehmen vor Ort angeboten werden. Dazu gehören Buchhaltung, technischer Support (einschließlich Amazon Web Services) und Visumbeschaffung. Und es gibt sogar Wohnungen: Wenn die Türme über Station F fertiggestellt sind, werden sie 100 Gemeinschaftswohnungen für Unternehmer beherbergen. „Auf dem Campus bieten wir buchstäblich alles an, was junge Unternehmen brauchen könnten, damit die-se sich auf das Wichtigste konzentrieren können, nämlich ihre Ideen und Start-ups“, erklärt Varza.


Das geschäftige Treiben ist mehr als nur ein Bonus, denn die Nähe zu anderen Unternehmen schafft einen Wettbewerbsvorteil. Kleine Startups können an Accelerator-Programmen, die von Unter-nehmen wie Facebook, Ubisoft und Havas angeboten werden, teil-nehmen und von ihnen profitieren. Die Konzentration auf Talent hat auch Investoren wie Daphni, Kima Ventures und Ventech angelockt, die ebenfalls Büros in Station F besitzen. 

 

Eines der Ziele dieses Hubs besteht darin, Frankreichs Ruf, Start-ups und neuen Geschäftsmodellen eher ablehnend gegenüber-zustehen, zu ändern. Diese Ansicht, die einst in Silicon Valley vertreten wurde, wandelt sich gerade, nicht zuletzt dank der Bemühungen von Varza und dem Unterstützer von Station F, Xavier Niel, sowie den von der Macron-Regierung eingeführten Änderungen (der französische Präsident war bereits schon selbst vor Ort). „Die Regierung bietet immer mehr Ressourcen und Unterstützung für lokale Unter-nehmer, einschließlich ausländischer Unternehmer, die nach Frank-reich kommen, und es ist schön, das zu sehen“, sagt Varza. Ein Drittel der Gründer bei Station F kommt aus dem Ausland, überwiegend aus den USA, Großbritannien und China. Da Technologiezentren wie San Francisco für junge Gründer kaum noch erschwinglich sind und das politische Klima in den USA und Großbritannien für ausländische Unternehmer zunehmend schwieriger wird, meldet Frank-reich bereits seine Ansprüche an.


Der Name Station F stammt von dem ursprünglichen Architekten des Gebäudes, dem französischen Ingenieur Eugène Freyssinet – er könnte jedoch ebenso für einen anderen passenden Namen stehen, wie Niel bereits scherzhaft erklärt hat: „Station France“. 

 

London: Founders Factory

Auf der anderen Seite des Kanals verfolgt die Founders Factory in London einen anderen Ansatz. Der Inkubator und Accelerator, der 2015 von den Gründern von lastminute.com, Brent Hoberman und Henry Lane Fox, gegründet wurde, hat sich zum Ziel gesetzt, je-des Jahr 13 neue Unternehmen hervorzubringen und weitere 35 voranzutreiben. „Unsere Intention bestand darin, in den nächsten fünf Jahren 200 Unternehmen zu schaffen“, sagt William Godfrey, Produktleiter bei Founders Factory.

Das Campus-Modell ist für die britische Hauptstadt nicht neu. Google hat 2012 in Shoreditch einen Google Campus eröffnet und half damit, den Tech-Cluster, auch bekannt als „Silicon Round about“ zu festigen (Google betreibt außerdem Campusse in fünf weiteren Städten: Madrid, Warschau, Tel Aviv, São Paulo und Seoul). Obwohl die Founders Factory im Northcliffe House in Kensington über ausgedehnte Büroflächen verfügt, profitiert sie eher von ihrem Netzwerk, anstatt sich auf die physische Infrastruktur zu konzentrieren. Hoberman besitzt gute Verbindungen innerhalb der britischen und europäischen Technologie-Sektoren. Sein Founders Forum gilt mittlerweile als eine der renommiertesten Konferenzen, zu deren Gäste sowohl Eric Schmidt von Google als auch der Duke of Cambridge zählen. „Ich mache mir eher weniger Gedanken um den Grundriss oder irgendwelche Annehmlichkeiten“, sagt Godfrey. „Ich denke eher darüber nach, was jemand, der ein Technologie-Unternehmen aufbaut, durchlebt.

“Der Ansatz der Founders Factory besteht darin, neue Unter-nehmen mit etablierten Unternehmen, die sich durch innovative, technologisch ausgereifte Geschäftsmodelle bedroht sehen, zusammenzubringen Ihre industriespezifischen Accelerator-Programme werden beispielsweise von EasyJet (Reisen), der Guardian Media Group (Medien) und Marks & Spencer (Einzelhandel) unterstützt. Jedes Unternehmen investiert in einen Unternehmensanteil von 3 bis 10 Prozent. Die Start-ups, die für ein Accelerator-Programm ausgewählt werden, profitieren derweil nicht nur vom Zugang zu frühen Finanzierungsmöglichkeiten, sondern auch von der unternehmerischen Expertise und den Vermögenswerten. „Als Start-up möchte man Zugang zu Vertriebsmöglichkeiten und Daten haben – die Dinge, die bei großen Unternehmen reichlich vorhanden sind“, erklärt Godfrey. Sechzig Unternehmen haben sich an Pilotprogrammen von Firmenkunden beteiligt; aus vielen gingen Verträge hervor, aus einigen Investitionen.


Godfreys Team bemüht sich sehr, die Vorteile, die sich durch so viele kleine Unternehmen ergeben, wirksam zu nutzen. Die Founders Factory richtet regelmäßige Meetings mit Unternehmen aus, um Erfahrungen auszutauschen und sich nach potenziellen Kooperationspartnern umzusehen. „Wir verfügen über dieses gewaltige angesammelte Wissen von mehr als 100 Unternehmen, die wir hier bereits begrüßen durften“, sagt Godfrey. „Wir können Menschen mit ähnlichen Problemen zusammenbringen. Davon sind viele auch eher von menschlicher, emotionaler Natur. Eines der häufigen Probleme beim Aufbau eines Start-ups ist das Gefühl der Isolation.“


Die Ambitionen der Founders Factory für London werden nur von ihren internationalen Plänen übertroff en. Letzten Oktober kündigte das Unternehmen seinen ersten internationalen Schritt an – die Gründung eines neuen Standorts in Johannesburg, der sich afrikanischen Start-ups widmen soll.

 

Lisbon: Factory Lisbon

In einer ehemaligen Brot- und Pastafabrik der portugiesischen Armee schreiten die Bauarbeiten an Lissabons eigenem Campus nach dem Beispiel von Paris und London gut voran. Factory Lisbon, die im Herbst 2019 eröffnet werden soll, wird 12.000 m² Bürofläche für Start-ups, ein öffentliches Restaurant, einen Park auf dem Dach und viele weitere Dinge bieten. Ihre Wurzeln liegen jedoch nicht in Portugal, sondern in Deutschland: Gründer Simon Schäfer steckt auch hinter der Factory Berlin, dem Coworking-Campus, der mittlerweile ein wichtiger Bestandteil des florierenden Tech-Ökosystems der deutschen Hauptstadt ist. Dieser wurde 2014 eröffnet und nach dem berühmten kreativen Hub von Andy Warhol in New York benannt. Seitdem wurde er zum Anziehungspunkt für einige von Berlins größten Technologie-Unternehmen, darunter SoundCloud, 6Wunderkinder, die Frauengesundheits-App Clue und viele weitere. „Da wir schon seit den späten 1990er Jahren Teil des lokalen Ökosystems sind, wussten wir, dass es von großem Vorteil ist, verschiedene Unternehmen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen an einem Ort zusammenzubringen“, sagt er. Um eine internationale Erweiterung zu finanzieren, verkauften Schäfer und sein Team 2015 die deutschen Rechte an der Marke Factory Berlin. Sie betreiben jedoch weiterhin noch einen anderen Campus in der Stadt, die Silicon Allee.


Nun bringt er das Factory-Konzept nach Lissabon; die Stadt, die bereits mit ihren Versuchen, Unternehmer auf die iberische Halb-insel zu locken, international Wellen geschlagen hat. Ein von der Regierung aufgestelltes Golden-Visa-Programm und ein Steuermodell für Ausländer mit vorübergehendem Wohnsitz in Portugal haben neue Talente angelockt, und der nationale „StartUP Voucher“, mit dem 18- bis 35-Jährige 12 Monate lang Zugang zu Finanzierungs- und Beratungsmöglichkeiten zur Gründung neuer Unternehmen erhalten, hat zur Entstehung einer florierenden Unternehmerkultur geführt. Seit 2016 kamen durch den jährlich stattfindenden Web Summit, dessen Austragungsort 2016 von Dublin hierher verlegt wurde, 70.000 internationale Gäste in die Stadt.


„Die Bereitschaft, Start-ups willkommen zu heißen und nach vorne zu schauen, ist beispiellos“, sagt Schäfer, der außerdem das Wirtschaftsministerium bei der Verbesserung einer Start-up-freundlichen Gesetzgebung unterstützt. „Wir erhalten enorme Unterstützung von der Regierung, der Stadt und der örtlichen Gemeinde.“

 

Für Schäfer ist der wichtigste Vorteil von Campussen gegenüber Coworking-Spaces der kompromisslose Fokus auf die Bedürfnisse von schnell wachsenden Start-ups. „Das wirkliche Problem, dem Unternehmen gegenüberstehen, ist der Übergang von einem Unter-nehmen der Serie A zu einem der Serie B, verbunden mit einer Vergrößerung des Personals innerhalb sehr kurzer Zeit“, sagt er. Angesichts dessen sind die im Tech-Sektor üblicherweise angebotenen Annehmlichkeiten, wie Tischtennisplatten, Ruheräume etc., lediglich Gimmicks. „Ich bin diesbezüglich etwas skeptisch“, erklärt er. „Wir versuchen, nicht zu viel Einfluss darauf zu nehmen, wie andere Menschen ihr Unternehmen führen. Räume, in denen jede Woche All-Hands-Meetings stattfinden können, Telefonkabinen, in denen man sitzen und Skype-Konferenzen abhalten kann – das sind die Dinge, die man wirklich braucht.“

 

Stockholm: The Factory

2016 schrieb der CEO von Spotify, Daniel Ek, zusammen mit anderen einen offenen Brief an die schwedische Regierung, in dem sich die Unterzeichner darüber beklagten, dass Stockholm einerseits zwar floriere, doch die steigenden Kosten, die der Standort in der Haupt-stadt verursachte, Unternehmen zum Abwandern zwinge. Dies war ein allgegenwärtiges Problem: Stockholm mag zwar der Star inner-halb der nordischen Technologieszene sein – hier sitzen unter anderem Skype, Klarna, iZettle, der Erfinder von Candy Crush, King sowie das Minecraft-Studio Mojang – doch mit dem Erfolg kommen auch die Schwierigkeiten. „Alle Start-ups versuchen, sich gleichzeitig in der Innenstadt niederzulassen, während die Preise immer weiter in die Höhe schießen“, sagt Simon Saneback von der in Stock-holm ansässigen Investment- und Service-Gruppe Wellstreet. „Aus meiner Sicht macht es für ein Start-up in diesem frühen Stadium keinen Sinn, das Geld seiner Investoren dafür auszugeben, anstatt zu versuchen, etwas Größeres zu bauen. Daher müssen wir den Fokus, der auf der Innenstadt liegt, verschieben.“


Wellstreet, das von Saneback vor drei Jahren mitbegründet wurde, verbindet Investmentunternehmen mit digitaler Beratung und bietet Dienstleistungen für seine Start-ups und verschiedene Unternehmen, einschließlich digitales Design, Personalwesen, Ingenieursdienstleistungen und Marketing. „Uns wurde klar, dass wir diese Plattform für Unternehmergeschaffen haben, aber wir benötigten einen physischen Standort“, erklärt Saneback.


Für dieses Frühjahr plant Wellstreet die Eröffnung der Factory (keine Verbindung mit Lissabon oder Berlin) in Sollentuna, ungefähr 15 Minuten mit der Bahn von der Stadt entfernt. Der Standort mit einer Fläche von 14.000 m² wird laut Saneback zum „größten Hub der nordischen Länder“. Er wird nicht nur Unternehmen – da-runter viele Investitionen von Wellstreet – beherbergen, sondern auch öffentliche Bereiche, ein Fitnesscenter und ein Restaurant und schließlich eine Schule anbieten. „Wir tun dies nicht nur für Start-ups. Es geht hier um ein gesamtes physisches Ökosystem“, sagt er.

 

Das Ziel von Wellstreet ist mehr als nur die Schaffung eines physischen Ökosystems. Wenn es erfolgreich ist, soll es zur Entstehung eines gesamten Stadtviertels beitragen. Mehr als 1.500 Wohnhäuser sind im Umland geplant, und Wellstreet überlegt den Einsatz von Shuttle-Bussen in die Stadt und zum Flughafen. Die schwedische Regierung war weitgehend unterstützend (obwohl jüngste politische Unruhen im Land den Fortschritt etwas gedämpft haben). „Dies wird ein sehr bedeutendes Viertel für Stockholm werden“, sagt Saneback.

Darin liegt die große Attraktivität dieser neuen Art von Tech-Megacampussen. Sie bilden nicht nur die physische Infrastruktur für eine Stadt; wenn alles richtig gemacht wurde, können sie neue Gemeinden schaff en. Die Konzerngiganten im Silicon Valley haben ganze Städte und Vororte geprägt: Apple in Cupertino, Facebook in Palo Alto, Google in Mountain View.


Nach Ansicht von Sanebeck besitzt Wellstreet nicht nur das Potenzial, um zu einem Hub für Schweden zu werden, sondern kann auch dazu beitragen, die führende Position des Landes im Bereich Technologie innerhalb Europas zu festigen. „Wir [Schweden] sind ein innovatives Kraftwerk. Wir haben eine fantastische Gemeinschaft geschaffen. Und wir haben nachhaltige Produkte geschaffen, die Wirkung zeigen. Schweden besitzt alle Komponenten, die zur Unter-stützung eines Unternehmers auf seinem Weg erforderlich sind.“

 

 

Oliver Franklin-Wallis ist ein in London ansässiger Schriftsteller, der sich auf Naturwissenschaften, Technologie und Wirtschaft spezialisiert hat. Er ist Mitbearbeiter für Wired UK und hat für GQ, The Guardian und Men's Health geschrieben.

 

Dieser Artikel erschien erstmals in der Mai-Ausgabe 2019 von WERTE, dem Kundenmagazin von Deutsche Bank Wealth Management.

 

 

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