Der Chemiker Michael Braungart hat eine Vision – eine Welt ohne Müll. Was unglaublich klingt, könnte in zwanzig Jahren Realität werden. Schaffen will Braungart das mit dem als Cradle-to-Cradle bekannten Verfahren, das Produkte als Wertträger begreift und in Kreislaufsysteme bindet. In Unternehmen wie Würth oder Trigema hat er bereits wichtige Förderer gefunden.

 

Michael Braungart hat einen besonderen Blick. Einen tiefen, wissenden Blick, den vermutlich nur ein Vollblut-Chemiker haben kann, dem völlig bewusst ist, welche Bestandteile man in die Rohmasse eines Produkts hineingeschüttet haben muss, damit es hinterher so aussieht, wie es aussieht. Das führt mitunter zu seltsamen Situationen. Vor drei Jahren, als Braungart auf der Architektur-Biennale in Venedig sein Gebäude der Zukunft vorstellte, das nicht nur vollkommen giftfrei und wiederverwertbar ist, sondern obendrein auch noch Luft und Wasser reinigt, fällt sein Blick während der Vernissage auf heiter diskutierende Gäste mit orangefarbenen Aperol-Spritz-Drinks in der Hand. Wenn die wüssten, denkt sich Braungart, dass der Farbstoff im Aperol in den USA als krebserzeugend eingestuft ist. Typisch Braungart. Er kommt, sieht und analysiert. Und oft steht am Ende der Analyse eine klare Antwort auf die Frage, wie man aus bestehenden Produkten bessere machen kann. Denn das ist Braungarts großes Ziel: Kon­sumieren ohne Gift, Konsumieren ohne Müll. Im Jahr 2040 soll das Zeitalter des „Chemical Harassment“, der chemischen Belästigung, so nennt er es, vorbei sein. Zumindest ist diese Jahreszahl Teil seines persönlichen Masterplans. Es soll kein Gift mehr in Zeitschriften sein, keins mehr im Toilettenpapier, keins mehr in Teppichböden oder Autoreifen.

 

„Wir denken, es sei Umweltschutz, wenn wir ein paar weniger Schweinereien machen“

 

Dafür hat Braungart schon vor Jahrzehnten zusammen mit dem US-amerikanischen Designer William McDonough das Cradle-to-Cradle-Prinzip („Wiege zur Wiege“) entwickelt. Es beschreibt zwei Produkt­sphären – eine biologische sowie eine technische. Darin rotierende Verbrauchs- oder Gebrauchs­produkte werden als Nähr- und Rohstoffträger begriffen, die ewig zur Verfügung stehen, weil ihre Materialien immer wieder in die Erneuerung einfließen. In dieser Welt gibt es weder Schrottplätze noch Müllverbrennungsanlagen, weder Luftverschmutzung noch kontaminierte Böden oder Flüsse und dadurch auch keine durch Toxine ausgelösten Zivilisationskrankheiten. Es wäre ein Garten Eden inmitten einer weiterhin konsumierenden Gesellschaft.

 

Das alles könnte man „nachhaltig“ nennen. Es klingt paradox, aber so einem wie Michael Braungart passt der Begriff der Nachhaltigkeit überhaupt nicht. Im Gegenteil. So manchen Nachhaltigkeitsbeauftragten großer Unternehmen zählt er zu seinen Gegnern. „Einem Waschmaschinenhersteller habe ich einmal anhand von Messungen gezeigt, welche Mengen giftiger Benzoldämpfe so eine Waschmaschine im Betrieb abgibt“, sagt Braungart. Daraufhin hätte ihn der Nachhaltigkeitsbeauftragte gefragt, wo denn der Grenzwert für Benzol aus Waschmaschinen liegen würde. „Anstatt sich zu fragen, wie man ein Gerät herstellen könne, das gar kein Gift mehr emittiert“, wundert sich Braungart. Das Beispiel soll zeigen, sagt er, dass es ihm nicht darum geht, im Falschen immer perfekter zu werden, sondern in der Geburtsstunde eines neuen Produkts das Falsche von vornherein auszuschließen. „Wir denken leider immer noch zu oft, es sei Umweltschutz, wenn wir ein paar weniger Schweinereien machen.“ 

 

Das Aufeinanderprallen zweier völlig gegensätzlicher Denkarten, des alten und des neuen Produzierens, erlebt Michael Braungart besonders häufig in der Nahrungsmittelindustrie. Er sei einmal bei einem namhaften Lebensmittelhersteller zu Gast gewesen, wo er eine neue Verpackung für Speiseeis vorstellte, die er erfunden hatte. Das Besondere: Bei Raumtemperatur wird die Verpackung, die Samen von seltenen Blumen enthält, zu einer Flüssigkeit. Eine schützende Folie für den Inhalt ist sie also nur, wenn sie gefroren ist. Das dient nicht nur der Müllvermeidung – ein Blick auf die Verpackung reiche Braungart zufolge bereits aus, um zu sehen, ob die Kühlkette eingehalten wurde und das Eis noch genießbar ist. „Da kommt der Forschungsleiter auf mich zu und sagt: ‚Ich lasse mir von Ihnen nicht mein Lebenswerk kaputt­machen!‘“

 

 

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Die biologische Sphäre

In der biologischen Sphäre rotiert alles, was der Konsument verbraucht. So landet das aus Biobaumwolle hergestellte und durch Schadstoffe unbelastete T-Shirt am Ende seiner Zeit nicht im Müll, sondern im Kompost. Dort zerfällt es nach fünf Monaten und wird Nährstoff für die nächste Pflanzengeneration, die dann der Rohstoff für die nächste T-Shirt-Kollektion ist – und der Kreislauf beginnt damit von Neuem.

 

 

 

Das Aufeinanderprallen zweier völlig gegensätzlicher Denkarten, des alten und des neuen Produzierens, erlebt Michael Braungart besonders häufig in der Nahrungsmittelindustrie. Er sei einmal bei einem namhaften Lebensmittelhersteller zu Gast gewesen, wo er eine neue Verpackung für Speiseeis vorstellte, die er erfunden hatte. Das Besondere: Bei Raumtemperatur wird die Verpackung, die Samen von seltenen Blumen enthält, zu einer Flüssigkeit. Eine schützende Folie für den Inhalt ist sie also nur, wenn sie gefroren ist. Das dient nicht nur der Müllvermeidung – ein Blick auf die Verpackung reiche Braungart zufolge bereits aus, um zu sehen, ob die Kühlkette eingehalten wurde und das Eis noch genießbar ist. „Da kommt der Forschungsleiter auf mich zu und sagt: ‚Ich lasse mir von Ihnen nicht mein Lebenswerk kaputt­machen!‘ “

 

Ein weiteres Beispiel aus Braungarts Ideensammlung: „Sagen wir, ein Unternehmen verkauft 150 000 Tonnen Zink für Gebäudefassaden. Aber wer braucht eigentlich dieses Zink? Niemand. Man braucht nur die Optik und den Schutz, den das Metall bietet. Mein Vorschlag ist: Das Unternehmen müsste lediglich die Nutzung des Zinks verkaufen, eine Bank würde das Zink halten und Anleihen darauf abgeben. Geschäftsmodelle wie diese gibt es jedoch noch nicht.“ Doch die Mühen lohnten sich, so Braungart: „Ich habe sechs Jahre gebraucht, das Unternehmen Philips davon zu überzeugen, dass niemand seine Glühbirnen braucht, sondern einfach nur deren Lichtleistung. So zu denken und zu handeln, spart vierzig Prozent Kosten ein.“

 

Braungart zu folgen, bedeutet immer auch, Abschied zu nehmen von alten Geschäftsmodellen und zu innovationsgetriebenen Überzeugungsstrategien überzugehen. Das ist kein einfacher Weg. Doch die Zahl der Unternehmen, die heute schon nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip handeln, wächst stetig. Es gibt heute bereits mehr als 11 000 Produkte weltweit.

 

 

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Die technologische Sphäre

In der technologischen Sphäre rotiert alles, was der Konsument gebraucht. Die nach dem Cradle-to- Cradle-Prinzip hergestellte Waschmaschine besteht aus lauter wiederverwertbaren Teilen und wird – nachdem sie nicht mehr funktioniert – von ihrem Hersteller zurückgenommen und demontiert. Die Einzelteile sind wiederum der technische Grundstoff für die Produktion einer neuen Waschmaschine.

 

 

 

Michael Braungart nennt den Bürostuhl von Giroflex, auf dem er jeden Tag sitzt. Die Schweizer, so der Wissenschaftler, würden nicht einfach nur einen Stuhl verkaufen, sondern gesundes Sitzen. „Ein Giroflex-Stuhl kann weit über zehn Jahre besessen werden“, heißt es beim Hersteller. „Dabei sind die Besitzer in ständigem Hautkontakt mit den verwendeten Textilien, Kunststoffen und Metallen. Entsprechend sind sämtliche Materialien schadstofffrei und gasen nicht aus.“ Am Ende seiner Nutzung wird der Stuhl vom Hersteller zurückgenommen, und die Einzelteile gehen in ihren Kreislauf zurück.

 

Auch das 1919 in Burladingen gegründete Familienunternehmen Trigema vertraut der Expertise von Braungarts Umweltinstitut EPEA. Schon seit dreizehn Jahren und als erster deutscher Bekleidungshersteller überhaupt fertigt der schwäbische Mittelständler zu einhundert Prozent kompostierbare T-Shirts aus Biobaumwolle, die keinerlei schädliche Rückstände hinterlassen. „Ich habe mit meinem Unternehmen schon oft vor der Konkurrenz Innovatives gewagt und mich nie in Arroganz vor Neuem verschlossen“, sagt Unternehmer Wolfgang Grupp. „Wenn ein Mann wie Professor Braungart zu mir kommt und mir etwas so Logisches und Vernünftiges vorstellt, dann muss ich diese Chance nutzen.“ Das Wagnis wurde belohnt. Inzwischen hat Trigema rund zwanzig verschiedene, jeweils nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip zertifizierte Produkte im Sortiment – darunter Hoodies, Jogginghosen und Polohemden. Weil er für die Cradle-to-Cra­dle-Produkte nicht alle Chemikalien benutzen dürfe, sei die ein oder andere Farbe zwar nicht immer so brillant, so Wolfgang Grupp, doch die zunehmend umweltbewussteren Kunden goutierten die nachhaltige Qualität.

„Die Frage ist: Wie gestalte ich ein System, in dem die Menschen keine Helden sein müssen, sondern wo die Intelligenz im System enthalten ist?“

Mit der Würth-Gruppe aus Künzelsau bietet ein Global Player Produkte nach dem Cradle-to-Cra­dle-Prinzip an: „Bereits heute ist abzusehen, dass Bau- und Rohstoffe immer knapper werden. Gefragt sind Baustoffe und Produkte, die in ihren Eigenschaften und Herstellungsprozessen so gestaltet sind, dass ihre Bestandteile qualitativ erhalten bleiben“, erklärt das Unternehmen. Das aus rund 200 Einzelkomponenten bestehende Schnellmontagesystem Varifix sei demnach „das erste Cradle-to-Cradle-zertifizierte Montageschienenprogramm weltweit“. 2017 wurde Würth dafür mit dem „Green Product Award“ ausgezeichnet.

 

Der Mainzer Chemie-Konzern Werner & Mertz (Frosch, Emsal, Erdal) hat den Wandel mit seiner Putzmittelmarke bereits im Jahr 2013 vollzogen. Frosch-Reiniger wie auch deren Plastikverpackungen hinterlassen keinerlei Rückstände. „Wir werden den Weg des Cradle-to-Cradle-zertifizierten Produktdesigns engagiert weitergehen und mit unseren Marken und Produkten echte Öko-Effektivität leben“, sagte der geschäftsführende Gesellschafter Reinhard Schneider, als sein Unternehmen 2015 in New York mit dem „Cradle-to-Cradle Products Innovator Award“ ausgezeichnet wurde. „Heutzutage ist es technologisch sehr wohl möglich, leistungsstarke – das heißt in unserem Fall reinigungsstarke – Produkte zu entwickeln, die gleichzeitig höchste Umweltstandards entlang der gesamten Wertschöpfungskette erfüllen.“ Werner & Mertz beweist auf diese Weise, dass selbst eine Branche, die nicht als besonders nachhaltig wahrgenommen wird, mit gutem Beispiel vorangehen kann.

 

Kosmetikartikel, Dämmstoffe, Toilettenpapier, Windeln, Reinigungsprodukte, Schreibgeräte – die Liste nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip produzierter Artikel wird immer länger. Dass die Menschheit die Erde durch das bisherige Konsumverhalten zu einer riesigen Müllkippe mache, werde Braungart zufolge von immer mehr Unternehmen erkannt. In der Cradle-to-Cradle-Produktion sieht Michael Braungart daher auch eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland. „Wir müssen einfach nur begreifen, dass Weltuntergangsdiskussionen in sich immer auch einen enormen Antrieb für Innovationen bergen. Hinzu kommt, dass wir Deutschen sehr gut wissen, wie man Waren so herstellen kann, dass sie gesund sind und zugleich gut für die Umwelt.“

 

Die Strahlkraft von Braungarts Ideen hat inzwischen auch Interesse in Hollywood geweckt. So habe Steven Spielberg mit Braungart einen Vertrag über einen Dokumentarfilm geschlossen. Der preisgekrönte Regisseur sei fasziniert vom Einsatz aus Deutschland, die Menschheit vor der Selbstzerstörung zu bewahren. Braungart formuliert es so: „Hinter Cradle-to-Cradle steckt ein positives Menschenbild. Es ist das einzige Modell, das die Menschen als Chance begreift und nicht als Belastung.“ 

 

 

 

Dieser Artikel erschien erstmalig in WERTE 19 - "Nachhaltig denken und handeln".

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