Ferdinand Wöhrle vom Risk Engineering Team der Deutschen Bank erklärt, wie man als Investor Risiko nicht nur aushalten, sondern als Chance begreifen kann.
Das Leben muss rückwärts verstanden werden, […] aber vorwärts gelebt.“ So einfach Søren Kierkegaards Worte zur Verbindung von Zeitablauf, Erkenntnis und Handlung klingen – es ist nicht leicht, aus der Vergangenheit Einsichten zu gewinnen und darauf Entscheidungen aufzubauen. Die aktuelle Krise veranschaulicht, wie eine Vielzahl von Informationen und gegensätzlichen Meinungen den Blick aufs Ganze trüben und den Zugriff aufs Wesentliche versperren kann.
Die Natur des Risikos liegt in der Überraschung – nur rückblickend erscheinen Ereignisse und ihre Konsequenzen off ensichtlich. Für den Investor bedeutet dies: Zu Markteinbrüchen oder Aufschwüngen kann es jederzeit kommen; selbst umfassende Information kann deren Zeitpunkte nicht voraussagen. Zudem ist gerade bei signifikanten Marktbewegungen die Volatilität besonders hoch und die Liquidität reduziert. Selbst zum „perfekten“ Zeitpunkt getroffene Entscheidungen können also häufig nicht adäquat umgesetzt werden – und so sind hohe Einbußen auf der Chancen- oder Risikoseite unvermeidlich. Deshalb ist Markttiming auf Dauer eine teure und unzuverlässige Risikosteuerung. Ob ein Investor langfristig erfolgreich ist, bemisst sich daran, ob der Balanceakt zwischen Gewinnchancen und Verlustrisiken gelingt und der Investor, unter Wahrung seiner Risikotragfähigkeit, durchgängig investiert bleiben kann, um an der Marktentwicklung zu partizipieren – ungeachtet der Marktereignisse.
„Die Natur des Risikos liegt in der Überraschung – nur rückblickend erscheinen Ereignisse und ihre Konsequenzen offensichtlich“
FERDINAND WÖHRLE
Ziel der Risikosteuerung muss also sein, den Investor bei möglichst hoher Marktpartizipation vor einer (erzwungenen oder freiwilligen) Flucht in Cash zu schützen. Zugleich soll sie, wie jede Versicherung, ökonomisch Sinn machen – ihr Einsatz soll auf Dauer systematisch mehr einbringen, als sie kostet, auch wenn sie über kurze Strecken rückblickend besonders „teuer“ oder „günstig“ erscheinen mag.
Die Gestaltung der Risikosteuerung bildet die wohl zentralste Entscheidung des Investors. Während beim Markttiming die Diskrepanz zwischen langfristigen Voraussagen und mittelfristigen Entwicklungen Opportunitätskosten verursacht, ist sein Gegenteil, ein komplett passiver Ansatz ohne Anpassung der Investitionsquote, zwar langfristig systematisch effizient – aber nur dann, wenn der Investor jegliche Marktereignisse gleichmütig durchstehen kann, ohne seine Allokation zu verändern. Gerade der Markteinbruch im März 2020 hat vielen langfristig orientierten Investoren eindrücklich vor Augen geführt, wie einschneidend der gleichzeitige Einbruch von Finanzmärkten und Realwirtschaft sich auf ihre Liquiditätsbedürfnisse ausgewirkt hat. Dass Diversifikation allein nicht immer ausreicht, um übermäßige Verluste in drastischen Marktphasen zu vermeiden, daran haben uns die Krisen 2008 und 2020 deutlich erinnert.
Ergänzend zur Diversifikation kann eine systematische, auf quantitativen Einsichten basierende Absicherungsstrategie Verlustrisiken zuverlässiger und ökonomisch effizienter begrenzen. Diese kann jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Eine direkte Steuerung der Investitionsquote, zum Beispiel durch Futures, kann in moderaten Märkten sehr kostengünstig sein, in volatilen Phasen aber ähnliche Probleme wie der Markttiming-Ansatz verursachen. Alternativ kann das Risiko durch die systematische Nutzung von Optionen gemindert und dabei die Investitionsquote möglichst konstant gehalten werden. Dieses Vorgehen erfordert eine regelmäßige Investition in die „Versicherungsprämie“ zur Sicherstellung der Verlustminderung, im Gegenzug wird eine durchgängige Erhöhung der Aktienquote möglich.
Es ist die Aufgabe unseres Rendite-Risiko-Engineerings (RRE), Investoren zur Risikosteuerung zu beraten und diese gemäß den Zielen des Investors so effizient und robust wie möglich zu gestalten: Nur Risiken, die man auch aushält, lassen sich als Chancen begreifen.
Ferdinand Wöhrle ist Teil des Risk Engineering Teams von Deutsche Bank Wealth Management unter der Leitung von Dr. Olaf Scherf. Dessen Arbeit wurde erst kürzlich mit dem Handelsblatt-Sonderpreis „Herausragender Risikoarchitekt“ honoriert.